Trauma – ein überstrapazierter Begriff?

„Trauma“ ist immer häufiger Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Die Gefahr: Das könnte zu einer Verharmlosung wirklicher Traumata führen.

Eine junge Frau steht in einem düsteren Raum und fühlt sich bedroht, während über ihr ein Lichtstrahl ist
Betroffene eines Traumas erleben häufig eine gesteigerte Schreckhaftigkeit oder Flashbacks in Form von aufblitzenden Bildern. © Suteishi/Getty Images

"Ich sitze am Familientisch, bin unter Freunden, bei der Arbeit oder in einer grünen Landschaft, die Umgebung jedenfalls ist friedlich, scheinbar gelöst und ohne Schmerz; dennoch erfüllt mich eine leise und tiefe Beklemmung, die deutliche Empfindung einer drohenden Gefahr. Und wirklich, nach und nach oder auch mit brutaler Plötzlichkeit löst sich im Verlauf des Traumes alles um mich herum auf; die Umgebung, die Wände, die Personen weichen zurück; die Beklemmung nimmt zu, wird drängender, deutlicher. Dann…

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wird drängender, deutlicher. Dann ist alles ringsum Chaos, ich bin allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat – und weiß auch, dass ich es immer gewusst habe: Ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien oder Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden ist nun zu Ende; der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, Wstawa.“

Von diesem wiederkehrenden entsetzlichen „Traum im Traum, unterschiedlich in den Details, gleichbleibend in der Substanz“, berichtet Primo Levi in Die Atempause, seinem autobiografischen Roman über die Befreiung aus dem Konzentrationslager und die Rückkehr nach Italien.

Können wir uns noch vorstellen, dass bis in die 1960er Jahre hinein die Lehrmeinung galt, ein seelisches Trauma habe bei gesunden Menschen keine bleibende Schädigung zur Folge? Machen wir uns heute noch bewusst, wie mühsam nach dem Zweiten Weltkrieg die psychologische und juristische Anerkennung von Traumafolgen sich vollzog? Die Zeiten haben sich geändert.

Traumatisch: nicht nur Verletzungen von außen, sondern auch individuelle Belastungen

„Sie können sich persönlich, über Ihren Hausarzt oder auch über die Opferschutzbeauftragten der Polizei an uns wenden und erhalten umgehend einen ersten Termin.“ So informiert die Traumaambulanz in Essen Betroffene, und so oder ähnlich informieren auch die anderen Einrichtungen dieser Art, die in den letzten Jahren in Deutschland entstanden sind. Es können Opfer krimineller, sexualisierter und häuslicher Gewalt mit der Essener Einrichtung Kontakt aufnehmen, ebenso Kriegs- und Folteropfer, Flüchtlinge, von Unfällen und Katastrophen Betroffene, Ersthelfer sowie Zeugen von Gewalttaten und Unglücksfällen. Auch der Tod eines Angehörigen kann ein Anlass sein, sich an die Spezialambulanz zu wenden.

Welche Folgen eine extreme und akute Traumatisierung im Erwachsenenalter, aber auch eine frühe und manchmal lang andauernde Traumatisierung in der Kindheit durch Vernachlässigung, durch körperliche und emotionale Gewalt haben kann, wie Traumatisierungen die Stressphysiologie, das (Körper-)Empfinden, Denken und Beziehungsverhalten beeinflussen können – dazu gibt es nicht nur immer mehr Erkenntnisse, es erweitern sich auch die Möglichkeiten der Behandlung.

Wir sind sensibler geworden für das Problem des sexuellen Missbrauchs in Familien, seit einigen Jahren werden wir – notgedrungen – auch hellhöriger angesichts der sexuellen Übergriffe dort, wo es offiziell ganz fromm oder pädagogisch fortschrittlich zugeht. Als potenziell traumatisch gelten mittlerweile nicht nur Verletzungen, die von außen hereinbrechen, sondern auch individuelle Belastungen durch schwere Krankheit, Migration und andere kritische Lebensereignisse.

Das Traumaskript stört die Romanhandlung

Dass das Trauma, speziell die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) immer häufiger zum Thema wird, macht die Symptome von Traumafolgen aber nicht weniger belastend. Zu ihnen gehören einschießende Bilder („Intrusionen“), Flashbacks und Albträume, Übererregbarkeit („Hyperarousal“) in Form von Schreckhaftigkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen, Vermeidungsverhalten allem gegenüber, was mit dem Trauma zu tun hat(te), emotionales Ertauben und Erstarren („Numbing“), das zu Interessenverlust, Teilnahmslosigkeit, sozialem Rückzug und schweren Symptomen des Abspaltens von Gefühlen und Erinnerungen, den Dissoziationen führen kann. Auch Depressionen, Ängste und Schmerzstörungen können Folge von Traumatisierungen sein.

Allerdings führen keineswegs alle potenziell traumatischen Situationen auch zu einer PTBS. 85 Prozent aller Naturkatastrophen, lebensbedrohlichen Erkrankungen, Verkehrsunfälle oder Körperverletzungen werden, so der Göttinger Traumaexperte Ulrich Sachsse, von den Opfern innerhalb von drei bis sechs Monaten bewältigt: Durch sozialen Austausch, Sicherheit und Geborgenheit sowie intensive Traumaarbeit würden die durch das Trauma zerborstenen „Gedächtnisinseln“ zusammengeführt, werde das Geschehen soweit bewältigt, dass die traumatische Situation kein „Trigger“ mehr sei, keine vegetative Übererregung oder Symptome auslöse, die durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Selbstverletzung oder Selbstgefährdung bekämpft werden müssen. Ein Trauma ist integriert, wenn es sich in Worte fassen lässt, zu einem „Kapitel der Vergangenheit im persönlichen Lebensroman“ wird, erklärt Ulrich Sachsse.

Was aber, wenn das unbewusste Traumaskript die Romanhandlung immer wieder stört, wenn das Geschehen als innerer Fremdkörper wirkt, der die unsichtbaren Fäden zieht? Je komplexer die Traumatisierungen sind, je früher im Leben sie stattfinden, desto tiefgreifender können sie die Persönlichkeit beeinflussen, ihre Entwicklung stören. Neurobiologische Befunde zeigen, wie traumatischer Stress die Verarbeitung von Gefühlen und Wahrnehmungen, ihre Speicherung im autobiografischen Gedächtnis verhindert.

Mithilfe von Hirnforschung und Bindungstheorie lässt sich immer präziser erklären, wie Probleme in den Beziehungen eines Kindes, frühe Entbehrungen, Überwältigungen, Missverständnisse und Trennungsängste seine Fähigkeit beeinflussen, die eigenen Gefühle zu verstehen und zu regulieren. Dann kann ein Mensch scheinbar schicksalhaft immer wieder in die Opfersituation geraten. Oder er muss in der Täterrolle sein Problem immer wieder inszenieren, durch direkte Aggression oder indem er den Bruch in seiner Seele unbewusst an andere weitergibt.

Erfahrung von Lebensgefahr und Hilflosigkeit ergeben Trauma

Mit welch gravierenden Folgen Traumatisierungen psychisch „vererbt“ werden können, haben vor allem Therapien der Nachkommen von tief traumatisierten Holocaustüberlebenden gezeigt. Erst viel später hat man sich auch mit der Täter- und Mitläufergeneration und ihren traumatischen Erbstücken beschäftigt.

Und was für die extreme Erfahrung des Holocaust gilt, für die Todeswünsche und unfreiwilligen Identifikationen mit ihrem Peiniger, von denen Opfer von Folter und Entführungen berichten, gilt in anderer Weise auch für die kleinen, aber fortgesetzt und ohne bewusste Absicht verabreichten Dosen der Verletzung in Familien und anderen „Traumasystemen“: Man kann, wie der Psychoanalytiker Mathias Hirsch schreibt, traumatisierende Gewalt „nicht denken, sie ist sozusagen im Vertrag über das menschliche Zusammenleben nicht vorgesehen. Das symbolisierende Denken ist ausgeschaltet.“

Auch bei einer akuten Traumatisierung durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe ist das eigentliche Problem nicht das äußere Geschehen. Erst die Erfahrung von Lebensgefahr mit völliger Hilflosigkeit charakterisiere ein Trauma, betont Ulrich Sachsse. Traumatisch werde Gefahr, „wenn ein Mensch weder sich selbst mit seinem Kampf-Flucht-Kognitionssystem helfen kann noch durch seine Bindungen Hilfe erfährt“.

Auf dieses Erleben von Ohnmacht muss auch die Behandlung Rücksicht nehmen. „Das Aufdecken, Bewusstmachen von Unbewusstem um jeden Preis stellt bei traumatisierten Menschen eine Gefahr dar, da sie von ihren Gefühlen und Erinnerungen überflutet werden können. Ihnen wird so nicht nur nicht geholfen, sie werden geschädigt“, betont Gottfried Fischer, Forschungsleiter des Deutschen Instituts für Psychotraumatologie in Köln und bis 2009 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der dortigen Universität.

Die Herstellung von Sicherheit – innerer, äußerer, möglicherweise auch der Schutz vor Täterkontakt – ist wichtig, Stabilisierung steht an erster Stelle. Das ist eine Besonderheit von Traumatherapien, verbunden mit Aufklärung über die Bedeutung von Intrusionen und anderen belastenden Symptomen und der Stärkung innerer Stabilitätsquellen – mag die Behandlung ansonsten eher kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch oder hypnotherapeutisch-imaginativ ausgerichtet sein. Erst dann folgt – soweit gewünscht, aushaltbar und verantwortbar – die Traumakonfrontation oder -exposition und schließlich die Integration.

Bewältigung von Traumata hängt von vielen Faktoren ab

Doch auch wenn sich die traumaspezifischen Behandlungen immer mehr differenzieren – die Therapie gilt dem Menschen, nicht dem Trauma. „Traumatherapie, die sich in der Weise verselbständigt, dass Menschen, die psychotherapeutisch nicht oder nicht gut ausgebildet sind, zum Beispiel EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) lernen und dann nur diese Technik auf dem freien Markt anbieten, kann Betroffene auch gefährden“, gibt Wolfgang Senf, bis Anfang 2013 Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Leiter der mit der Essener Traumaambulanz verbundenen LVR-Klinik der Universität Duisburg-Essen, zu bedenken.

Ein Trauma trifft Menschen mit ihren individuellen Verletzlichkeiten und Stärken, ihrem ganz eigenen sozialen Rückhalt oder dem Mangel daran. Das Thema Widerstandskraft (Resilienz), die Betonung von Fähigkeiten und Ressourcen auszuspielen gegen die überwältigende Kraft traumatischer Ereignisse, hält Wolfgang Senf deshalb für „gefährlich“. Ob und wie Traumawirkungen kompensiert werden können, hängt von zahlreichen Faktoren ab – inneren und äußeren. Und auch sie sind oft mehrdeutig und komplex verbunden. Alte und neue Traumatisierungen können sich überlagern. Da kann in der Familie ein Missbrauch die frühe Vernachlässigung verdecken. Und wird der Verlust des Arbeitsplatzes vom kritischen Ereignis zum Trauma, weil er ein altes Schamdesaster „triggert“? Oder weil die Arbeitslosigkeit ganz real schwer belastende Folgen hat?

Auch wenn immer wieder gern betont wird, dass bei Traumafolgestörungen anders als bei vielen anderen psychischen Problemen der Auslöser bekannt sei – einfach im Sinne von eindeutig wird dadurch kaum etwas. Denn Schutz- und Risikofaktoren können miteinander verschränkt sein, Wünsche nach Besserung des körperlichen und seelischen Zustands sich mit Wünschen nach rechtlicher und finanzieller Entschädigung kompliziert verhaken.

Auch die vielbeschworene „posttraumatische Reifung“ lässt sich nicht zum eindeutig „guten Sinn“ des Traumas (v)erklären. Sie einzufordern steht Nichtbetroffenen ohnehin kaum zu und wäre angesichts vieler von Menschen ausgelöster Traumatisierungen auch zynisch. PTBS-Spezialisten wie der Zürcher Psychotraumatologe Andreas Maercker sprechen von den zwei Gesichtern, dem „Januskopfmodell posttraumatischer Reifung“. Denn diese könne „positive psychische Anpassung“ ebenso bedeuten wie Wunschdenken zur Selbstberuhigung und -täuschung. Und beides könne, je nach Zeitpunkt, sinnvoll bei der Verarbeitung von Traumata sein.

Ist heute alles ein „Trauma“?

Und das Trauma kann „anstecken“, nicht nur Ersthelfer und Notfallpsychologen. Auch in der Behandlerrolle gilt es, dem Ohnmachtserleben standzuhalten, besonders da, wo es der Betroffene (noch) nicht kann. Vom hohen psychischen Tribut, den es von Therapeuten fordert, mittelbar Zeugen von Verbrechen, Unglücksfällen oder anderen katastrophalen Erlebnissen zu sein, spricht Andreas Maercker. Sinnvoll sei, für sich selbst das Gefühl zu akzeptieren, „dass nach einem mittelbaren oder unmittelbaren traumatischen Ereignis nichts mehr so ist, wie es früher war“.

Mittlerweile wird auch Kritik laut an der inflationären Verwendung des Traumabegriffs. „Vom Herzinfarkt über Schulprobleme bis zum Fernsehen kann man heute alles als traumatisch bezeichnen“, stellt David Becker in seinem Buch Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten polemisch fest. Was der Psychologe, der als Berater in Kriegs- und Krisengebieten arbeitet, den „Traumaboom“ nennt, ist die andere Seite der gewachsenen Sensibilität für Traumata und ihre Folgen. Sie lässt uns im Alltag das Wort auch dann benutzen, wenn es um Belastungen geht, um Ängste, ein schlimmes Erlebnis – und vielleicht auch um die Faszination, die extreme Situationen auf uns ausüben.

Mittels „Trauma“-Diagnose den Anspruch auf die Opferrolle anzumelden, für sich oder einen anderen, mag erleichtern – es dient allerdings nicht dem Verständnis der Sache. „Wenn man alle Arten von Stress, Frustration oder Schwierigkeiten des Lebens als traumatisch bezeichnet, kann das zur Aufweichung und Verharmlosung des Begriffs führen“, erklärt Gottfried Fischer.

„Traumagerede“, kritisiert David Becker, werde zunehmend zum Ersatz für die mühevolle Beschäftigung mit dem, was den Menschen, aber auch was politisch, sozial und kulturell in Krisenregionen geschieht. Was heute Trauma genannt werde, meine in der Regel nicht die „komplexe und fürchterliche soziale Wirklichkeit, in der Traumata entstehen“, sondern „eine Krankheit“, für die in den reichen Industrienationen ausführliche Diagnosehandbücher entwickelt worden seien.

„Psychotraumatologische Abwehr“ begünstigt Opferbeschuldigung

Der Psychologe Sefik Tagay, Forschungsleiter der Essener Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, sieht das Problem vor allem bei den Formulierungen von Fragebögen, die mittels Selbstbeurteilung Traumaereignisse und -folgen erfassen wollen. „Die wirklich existenziell bedrohliche Qualität des Geschehens und die Reaktion des betroffenen Menschen sind entscheidend für die Diagnose einer PTBS. Die meisten Selbsteinschätzungsbögen berücksichtigen aber in ihren Fragen weder ausreichend den Bedrohlichkeitsaspekt noch den Leidensdruck der Betroffenen.“ Das führe tendenziell zur Verwässerung des Traumabegriffs und zu den manchmal unerwartet hohen Zahlen zur Verbreitung posttraumatischer Belastungsstörungen in der Bevölkerung.

Und wie steht es mit dem Alltagswissen? Es mag einen Boom bei der Verwendung des Traumabegriffs geben, Gottfried Fischer hält die Unwissenheit über Erscheinungsformen von Traumatisierung allerdings immer noch für groß. Denn neben der „psychotraumatischen Abwehr“ der Betroffenen, die sich vor allem im Vermeidungsverhalten zeigt, gibt es auch unser aller Neigung, die Augen fest zu verschließen vor dem, was Menschen einander antun und auch schuldig bleiben können. Wir wollen nicht wissen, wie schnell etwas passieren kann, das das ganze Leben plötzlich aus den Angeln hebt. Fischer nennt das unsere „psychotraumatologische Abwehr“.

Sie ist notwendig, um den Alltag zu leben, aber problematisch, wenn sie in Gestalt der Opferbeschuldigung auftritt. „Mit dem blaming the victim wollen wir unsere Sicherheitsillusion bewahren.“ Da hat dann das Unfallopfer halt „nicht aufgepasst“, da war die vergewaltigte Frau wohl zur „falschen“ Zeit am „falschen“ Ort, womöglich „falsch“ gekleidet. Da hat, für Fischer eine der bösartigsten Formen der Opferbeschuldigung, das sexuell missbrauchte Kind den Kontakt vielleicht „gewollt“ oder gar den Täter „verführt“. Da kann auch eine Mordserie an Migranten unmöglich etwas mit Rechtsradikalen zu tun haben.

Eigene Anteile erkennen

Die eigenen Tendenzen zur Beschuldigung der Opfer, aber auch zur allzu schnellen Beschuldigung vermeintlicher Täter kennenzulernen ist ein anspruchsvolles Ziel. „Die übertriebene, blinde Identifikation mit dem Opfer kommt oft durch Abwehr eigener Täteranteile zustande – und umgekehrt“, betont Fischer. Nur wer den Zugang zu diesen Anteilen, die die Lebensgeschichte uns beschert und die dem Selbstbild oft gar nicht schmeicheln, in sich selbst zu finden bereit sei und zu beiden die notwendige Distanz halte, schaffe sich die Voraussetzung für ein möglichst objektives Urteil über den Wahrheitsgehalt von Aussagen.

Und auch andere (Selbst-)Erkenntnisse stehen noch aus. Dass es das manchmal völlig affektfreie Erinnern allerschlimmster Dinge ebenso gibt wie das Präsentsein aller emotionalen Aspekte eines Vorfalls, dann aber ohne logische Abfolge, ohne korrekte Platzierung in Raum und Zeit, dass solche Aufspaltung in Affekt und Kognition aber ein Mechanismus ist, der gesund erhalten soll und sich auch bei Aussagen vor Gericht nicht einfach aushebeln lässt – diese Art von traumatologischem Basiswissen sieht Gottfried Fischer noch nicht bei allen Verantwortlichen angekommen. Und auch bei der Verbrechensaufklärung selbst gebe es noch Unterbelichtungen des Traumahintergrundes.

„In vielen Gewalthandlungen, vor allem solchen gegen andere Menschen, wiederholt sich die Gewalterfahrung des Täters. Da gibt es oft Entsprechungen von Trauma- und Tatprofil bis in viele Einzelheiten hinein.“ Neben traumabezogenem Profiling sei deshalb auch der Einzug der Traumatherapie in Gefängnisse und forensische Kliniken notwendig.

Positiver Aspekt des Traumabooms

„Traumagerede“, die manchmal inflationäre Verwendung des Begriffs, hat durchaus nützliche Seiten. Mathias Hirsch, der sich besonders mit der frühen und komplexen Traumatisierung in Beziehungen beschäftigt, sieht einen positiven Aspekt des Traumabooms darin, dass eine traumatisierende Einwirkung auf das sich entwickelnde Kind in Form von offener oder subtiler Gewalt als Wurzel schwerer Störungen endlich anerkannt sei.

Und auch David Becker, dem es um Menschen geht, die von sozialpolitischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfen traumatisiert worden sind, weiß über den Traumadiskurs Gutes zu sagen. Er habe das Leid der Menschen greifbarer gemacht und die Einstellung gefördert: „Jeder hat das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein. Das Leid der Menschen, der Opfer muss zur Kenntnis genommen werden. Wir dürfen es nicht akzeptieren.“

Quellen

David Becker: Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Edition Freitag, Freiburg 2006

Gottfried Fischer, Annika Klein, Alice Orth: Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Asanger (Kröning) 2012

Mathias Hirsch: Trauma. Psychosozial, Gießen 2011

André Karger (Hg.): Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen? Weiterleben mit dem Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012

Andreas Maercker: Posttraumatische Belastungsstörungen. In: Bernhard Strauß, Fritz Hohagen, Franz Caspar (Hg.): Lehrbuch Psychotherapie, Teilband 1. Hogrefe, Göttingen, Bern, Wien, Toronto, Oxford, Prag 2007, S. 581–609

Andreas Maercker, Ulrike Ehlert (Hg.): Psychotraumatologie. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie, Bd. 20. Hogrefe, Göttingen, Bern, Toronto, Seattle 2001

Ibrahim Özkan, Ulrich Sachsse, Annette Streeck-Fischer (Hg.): Zeit heilt nicht alle Wunden. Kompendium zur Psychotraumatologie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012

Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger, Andreas Maercker (Hg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Klett-Cotta, Stuttgart 2011

Sefik Tagay, Nevena Repic, Wolfgang Senf: Traumafolgestörungen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Psychotherapeut, 2011. DOI: 10. 1007/s00278-011-0847-y

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2013: Selbstbewusst!